Auch in diesem Jahr luden Pfarrer i. R. Norbert Littig und Bürgermeister Stefan Schneider für Dienstag, den 9. November um 11:30 Uhr zur stillen Besinnung anlässlich der Reichspogromnacht vor 83 Jahren an den Gedenkstein der Familie Schönwald an der Ecke Bankstraße / Bandweberstraße ein.
Bürgermeister Stefan Schneider mahnte in seiner Rede vor
aktuell zunehmender Polarisierung. Diese führt zu immer mehr verbalem Aufrüsten
und damit körperlichen Angriffen. Was sich unter anderem im steigenden
Antisemitismus und Extremismus zeigt. Umso wichtiger ist es, die
geschichtlichen Ereignisse zur bewahren und ihre verheerenden Auswirkungen auch
den folgenden Generationen zu verdeutlichen. Aus diesem Grunde gedenken die
Großröhrsdorfer Bürger in jedem Jahr dem schrecklichen Schicksal der Familie
Schönwald, die das heutige Kaufhaus Brückner (ehemals Kaufhaus Schönwald)
unterhielt. „Unsere Verantwortung ist es, solche Verachtung, Verfolgung und
Vernichtung von Menschen nie mehr zuzulassen.“ forderte Bürgermeister Stefan
Schneider.
Pfarrer i. R. Littig ging in seiner Rede auf den
wirtschaftlichen und kulturellen Beitrag der Juden anlässlich 1700 Jahre
jüdisches Leben in Deutschland ein.
Im Jahr 321, also vor genau 1.700 Jahren, wurden durch den
ersten christlichen Kaiser Konstantin in Rom zwei Gesetze erlassen, die bis
heute ihre Wirkung haben: Der Sonntag wird staatlich geschützter Ruhetag und
den Juden wird erstmals erlaubt, kommunale Ämter in der Stadt Köln zu
übernehmen. Für Christen und Juden wurden damit Rahmenbedingungen geschaffen,
ihre Identität frei zu entfalten. Beide Gruppen waren damals im römischen Reich
religiöse Minderheiten. In den folgenden Jahrhunderten gewannen die Christen
immer mehr an Einfluss. Alles Nichtchristliche wurde nach und nach aus dem
gesellschaftlichen Leben verdrängt. Verbote, Diskriminierungen und Verfolgungen
Andersgläubiger waren die negative Seite einer erfolgreichen christlichen
Entwicklung. Doch Verbote und Verfolgungen sind nicht Ausdruck geistiger
Stärke. Diese Einsicht wurde u. a. durch die Aufklärung im 18. Jahrhundert
befördert. Im 19. Jahrhundert werden Juden in fast allen europäischen Staaten
als absolut gleichberechtigte Bürger anerkannt. Damit erhalten sie Zugang zu
Universitäten, und sie partizipieren an wissenschaftlichen und wirtschaftlichen
Entwicklungen.
Mit einem Bevölkerungsanteil von weniger als 1% trugen
deutsche Juden ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts weit überdurchschnittlich
viel zu wissenschaftlichem Fortschritt, kultureller Vielfalt und
wirtschaftlichem Reichtum in Deutschland bei. Mit ihrem Einsatz im 1. Weltkrieg
meinten sie, ihren patriotischen Nachweis erbracht zu haben.
Mit ein paar wenigen Beispielen verdeutlichte Norbert
Littig, dass Juden eine enorme Bereicherung und keine Bedrohung für unser Land
darstellten. Schriftsteller wie Heinrich Heine, Franz Kafka, Franz
Werfel, Arnold Zweig, Thomas und Heinrich Mann bis hin zu Stefan Heym haben die
deutsche Literatur nachhaltig beeinflusst. Kaum ein anderer trug die gesamte
deutsche Literatur lebendig in sich wie der oft als „Literaturpapst“
bezeichnete jüdische Kritiker Marcel Reich-Ranicki“.
Die deutsche Musikgeschichte wurde ganz wesentlich
bereichert durch die Klavierkonzerte von Felix-Mendelsohn-Bartholdy, sowie die
Zwölftonmusik von Arnold Schönberg.
Produkte wie die Nivea-Creme,
Leukoplast, Labello-Lippenpomade im Gewindestift und Tesa-Film sind Entwicklungen
des jüdischen Hamburger Apothekers Dr. Oscar Troplowitz.
Unter dem Motto „Kaufen muss Freude machen“ gründeten
jüdische Handelsleute die ersten Kaufhäuser im 19. Jahrhundert. Kaufhof
(aus Tietz hervorgegangen), Wertheim, Schocken und Hertie bestimmten über 100
Jahre die deutsche Verkaufskultur vor allem in den Großstädten. Das berühmte
KaDeWe wurde von einem aus ganz armen jüdischen Verhältnissen stammenden Mann
namens Adolf Jandorf gegründet. Und auch in Großröhrsdorf führte die jüdische
Kaufmannsfamilie Schönwald ein erfolgreiches Textilkaufhaus. Zum Bau des
Massenei-Bades gab der hiesige Kaufmann Curt Schönwald einen wesentlichen
Beitrag und gab damit seinen wirtschaftlichen Erfolg auch ein Stück wieder an
die Gemeinschaft zurück.
Wussten Sie, dass Juden nur 0,2% der Weltbevölkerung
ausmachen, aber 20% aller Nobelpreisträger jüdischer Herkunft sind?! Vor allem
im Bereich der Naturwissenschaften und der Medizin leisteten Juden einen
enormen Beitrag für das Gemeinwohl. Der Mediziner Paul Ehrlich begründete die
Chemotherapie und legte die Grundlagen für die heutige Krebstherapie. Der
Physiker Albert Einstein revolutionierte die klassische Physik und gilt bis heute
als das wohl genialste Genie.
Auch politisch engagierten sich Juden am Beginn des 20.
Jahrhunderts. Der prominenteste Politiker mit jüdischem Hintergrund der
Weimarer Zeit war der Außenminister Walther Rathenau, nach dem auch eine Straße
hier in Großröhrsdorf benannt ist. Er engagierte sich für Deutschlands
Interessen nach dem 1. Weltkrieg durch Verhandlungen mit Frankreich und
Russland.
„Juden waren und sind eine Bereicherung und keine Bedrohung
für Deutschland. Eine Bedrohung für unser Land waren und sind die Antisemiten,
die aus rassistischen Gründen jüdisches Engagement für das Gemeinwohl leugnen
und zu verhindern suchen. Dem lasst uns in unser aller Interesse deutlich
widersprechen“ so mahnte Pfarrer i. R. Norbert Littig zum Abschluss seiner Rede.
Im Anschluss legten alle Anwesenden mit Bürgermeister
Stefan Schneider und Pfarrer i. R. Norbert Littig eine weiße Rose und eine
weiße Lillie sowie Kieselsteine am Gedenkstein der Familie Schönwald nieder.
Stadtverwaltung Großröhrsdorf Rathausplatz 1 01900 Großröhrsdorf