Auch in diesem Jahr luden Pfarrer i. R. Norbert Littig und Bürgermeister Stefan Schneider für Sonntag, den 9. November um 11:30 Uhr zur stillen Besinnung anlässlich der Reichspogromnacht vor 87 Jahren an den Gedenkstein der Familie Schönwald an der Ecke Bankstraße / Bandweberstraße ein.
Das Motto der diesjährigen Friedensdekade „Komm den Frieden
wecken“ lädt dazu ein, Frieden aktiv zu suchen und zu fördern – in persönlichen
Beziehungen, in der Gesellschaft und weltweit. 80 Jahre nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs und der Befreiung vom Faschismus und trotz vieler Kriege und
Konflikte in der Welt ruft es dazu auf, die Bedeutung von Frieden und
Versöhnung nicht zu vergessen. Das Motto soll Mut machen, Ängsten zu trotzen
und in Gemeinschaft Hoffnung zu finden.
Vor 87 Jahren wurden in ganz Deutschland mehr als 200
Synagogen angezündet, Tausende jüdischer Geschäfte die Scheiben eingeworfen,
jüdische Mitbürger durch die Straßen gejagt, gedemütigt und inhaftiert. Das
Schicksal der in der Stadt Großröhrsdorf geachteten Familie Schönwald steht
exemplarisch für ein landesweites Verbrechen. Ihrer gedenken wir an diesem Tag
und nehmen zugleich die schlimmen Vorgänge in unserer Zeit wahr.
Bürgermeister Stefan Schneider warnte in seiner Rede vor
dem schleichenden Antisemitismus: „Es ist wichtig, sich und sein Umfeld stets
zu hinterfragen. Gerade in der aktuellen Situation sind derartige Gedenkfeiern
wichtiger als je zuvor, um zu reflektieren und zu mahnen, damit diese
Verbrechen sich nie wiederholen.“
Pfarrer i.R. Norbert Littig blickte in seiner Rede auf die
Geschehnisse in Großröhrsdorf rund um die Reichspogromnacht vor 87 Jahren
zurück. Wer im Rückblick geschichtliche Vorgänge in der Zeit des
Nationalsozialismus bewertet, ist oft der Überzeugung, pauschal große Teile des
deutschen Volkes als Anhänger oder Mitläufer disqualifizieren zu müssen. Anhand
einiger Beispiele verdeutlichte Norbert Littig, wie der Widerstand dennoch
möglich war.
„Da gab es den Bürgermeister Max Rentzsch, der sich während
seiner 40-jährigen Amtszeit bis Dezember 1936 zum Wohle der Stadt engagierte
und sich dem parteipolitischen Bemühen der Nationalsozialisten im Rahmen seiner
Möglichkeiten widersetzte. Im Anzeiger erschien von 1933 bis 1936 nicht ein
Artikel gegen das jüdische Kaufhaus Schönwald. Erst ab der Einsetzung des
SA-Obersturmbannführers Herbert Rosig ins Bürgermeisteramt durfte keine
Schönwald-Werbung im Amtsblatt erscheinen. Mit allen Mitteln versuchte er, den
jüdischen Kaufhausbesitzer durch einen Boykott in den Ruin zu führen. Mitglieder
der SA versuchten Kunden beim Einkauf bei Schönwalds einzuschüchtern, indem man
sie beim Verlassen des Kaufhauses fotografierte.
Dennoch hatte das Kaufhaus im November 1938 seine
Maximalbesetzung in seiner Mitarbeiterschaft. Insgesamt standen hier zehn
Personen in Lohn und Brot. Im Kaufhaus herrschte ein ausgezeichnetes
Betriebsklima. Zwei ehemalige Verkäuferinnen sagten 2006: „Wären wir wirklich
boykottiert worden, hätten wir Personal entlassen müssen. Das war aber nicht
der Fall.“ Die große Mehrheit der Kundschaft ließ sich nicht einschüchtern.
Besonders auch die Schneiderinnen hielten Schönwalds die Treue und bezogen hier
ihr Zubehör.
Vorläufiger Höhepunkt der Judendiskriminierung war das
landesweit vorbereitete Pogrom in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938. Damit
dieses Ereignis auch in Großröhrsdorf in der Nacht nicht ohne öffentliche
Beteiligung ablaufen sollte, zwang man gewaltsam den hiesigen Kirchner Martin
Boden, die Kirchenglocken zu läuten. Aber dieses Geläut hatte genau die
entgegengesetzte Wirkung: Die Bewohner wurden wach und schauten nicht
zustimmend, sondern mit Entsetzen durch ihre Fenster, wie das Ehepaar Schönwald
durch die Straßen getrieben wurde. Bürgermeister Max Rentzsch notierte in einer
privat verfassten Chronik: „Die Bewohnerschaft verurteilte dieses Vorgehen auf
das Schärfste.“
Curt Schönwald wurde für zweieinhalb Wochen im
KZ-Buchenwald inhaftiert. Seine Entlassung erfolgte mit der Auflage, dass er
sein Geschäft zu verkaufen habe und nach Berlin in ein „Judenhaus“ zog. Die
Kontakte zu nicht-jüdischen Mitbürgern sollten auf diese Weise unterbunden
werden. Doch Schönwalds pflegten mit einigen Großröhrsdorfern brieflichen
Kontakt in dieser für sie so schweren und ungewissen Zeit. Nachweislich haben
Dr. Nekwasil, der Nachmieter, und ihre langjährige Haushaltshilfe sie in Berlin
besucht. Auch darin zeigt sich Freundschaft und echte Mitmenschlichkeit, die
der Nazi-Geist nicht zerstören konnte.
Widerstandskämpfer waren die Einwohner von Großröhrsdorf in
der NS-Zeit gewiss nicht. Auch gab es keinen organisierten Widerstand gegen das
System der Diktatur. Viele lebten einfach eine mitmenschliche Grundhaltung, die
ihnen im Elternhaus und durch eine echte christliche Verkündigung anerzogen
wurde. Und sie ließen sich auch darin nicht beirren, als man auf sie
psychischen Druck ausübte. So konnten sie zwar die Vertreibung der jüdischen
Mitbürger und deren Ermordung nicht verhindern, aber in gleicher Grundhaltung
waren sie auch nicht bereit, dieses tragische Schicksal zu vergessen. Die Tafel
am Gedenkstein soll bleibend weitere Generationen an das Leben und Wirken der
Schönwaldfamilie in der Rödertalstadt erinnern. Und der Gedenkstein soll uns
zugleich mahnen, dass auch wir für die Achtung der unverlierbaren Würde eines
jeden Menschen in unserem Umfeld und Wirkungskreis eintreten.“
Im Anschluss legten alle Anwesenden unter musikalischer
Begleitung durch ein Akkordeon-Trio zum Gedenken aller Menschen, die unter
Unfrieden und Unrecht leiden, am Gedenkstein der Familie Schönwald Blumen
nieder.
Stadtverwaltung Großröhrsdorf Rathausplatz 1 01900 Großröhrsdorf